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Jede demokratische Gesellschaft braucht eine große Zahl von Menschen, die politisch denken und handeln können. Sie sind für eine Demokratie notwendig – zum Überleben notwendig und sie wachsen nicht auf Bäumen, sondern in der Jugendgruppe. Diesen Satz hat einmal Heinrich Eppe, ehemaliger Leiter des Archivs der Arbeiterjugendbewegung, geprägt. Und er gilt nach wie vor. Trotzdem erleben wir seit Jahren eine Tendenz zur menschlichen Einzellösung, zur so genannten Individualisierung.

Individualisierung – Weg zur Emanzipation oder Vehikel neoliberaler Ideologie?

Der Begriff »Individualisierung« wurde Anfang der Achtzigerjahre von dem Soziologen Ulrich Beck geprägt, um die veränderten sozialen Lebensumstände in westlichen Gesellschaften hin zu mehr persönlicher Freiheit und der Möglichkeit von selbstbestimmteren Lebensstilen zu beschreiben.1 Individualisierung steht somit für ein Plus in Sachen freier Entfaltung und individueller Lebensgestaltung: Althergebrachte Klassenschranken und Zugangsbarrieren zu bestimmten Berufen fallen, traditionelle Geschlechterrollen weichen auf, homosexuelle Beziehungen werden auf breiter Front akzeptiert und parallel wandeln sich elterliche Erziehungsziele von Unterordnung in Richtung Selbständigkeit. So weit, so gut! Aber die Individualisierung hat auch ihre Schattenseiten.

AJT Berlin 1979Und diese treten in Verbindung mit einem globalen Turbokapitalismus immer deutlicher hervor. So ist ein neoliberaler Zeitgeist entstanden, dessen Leitbild das »unternehmerische Selbst« ist. Jeder – so wird mit dem Bild des Unternehmers suggeriert – kann seine soziale Position verbessern, wenn er unternehmerisch handelt, sich der Konkurrenz stellt, biografisch flexibel ist und seine Kompetenzen optimiert. Oder umgekehrt: Wer sich in einer prekären Lebenslage befindet, ist selbst schuld. Die Folgen dieses neuen Menschenbildes sind überzogenes Konkurrenz- und Leistungsdenken und der Verlust sozialer Bindungen. Nachfolgende Entwicklungen untermauern diese Gesellschaftsdiagnose. Was ehemals als Normalarbeitsverhältnis galt, ist heute eher die Ausnahme. Leih- und Zeitarbeit sind die Regel.

Von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wird immer mehr Flexibilität verlangt, die sich als »eine bestimmende Marktideologie« erweist. Diese kurzfristigen Zeitstrukturen der Arbeitswelt setzen sich im Privatleben fort. Wer auf der Suche nach Arbeit häufig den Wohnort wechseln muss, kann kaum tiefgehende Freundschaften und zwischenmenschliche Bindungen pflegen. Wissenschaftler wie der Soziologe Richard Sennett warnen vor dieser Entwicklung: »›Nichts Langfristiges‹ desorientiert auf lange Sicht jedes Handeln, löst die Bindungen von Vertrauen und Verpflichtung und untergräbt die wichtigsten Elemente der Selbstachtung«.

Unter diesen Bedingungen werden nicht zuletzt die Solidarisierung von Menschen in gleichen Lebensumständen und die Formierung von (Protest-)Bewegungen erschwert. Gerade auch in der Verbandsarbeit ist diese Entwicklung wahrnehmbar: Aktivitäten und Angebote von Kinder- und Jugendverbänden sind zwar nach wie vor gefragt, werden aber oft nur kurzfristig konsumiert. Angesichts stetig wachsender Leistungsanforderungen auf dem Arbeitsmarkt steigt der Erwartungsdruck auf Kinder und Jugendliche. Schon im Kindergarten, aber insbesondere an Schulen und Hochschulen nimmt der Leistungsdruck zu.

Die kommende Generation soll fit gemacht werden für den globalen Wettbewerb. Bildung wird auf ökonomisch verwertbare Kompetenzen reduziert. In Rankings wie PISA wird die Qualität des Humankapitals überwacht. Immer mehr Stoff muss in immer kürzerer Zeit gelernt werden. Schulpsychologen machen schon jetzt darauf aufmerksam, dass Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, aber auch die Eltern unter einem kaum noch zu bewältigenden Stress leiden. Nicht selten führt der Leistungsdruck zum Missbrauch von Medikamenten und Drogen.

Kinder und Jugendliche wachsen in einem Klima des Konkurrenzkampfes auf. Durchsetzungsfähigkeit und Härte (auch gegen sich selbst) werden belohnt. Aufklärung, Emanzipation und Solidarität – Grundwerte einer demokratischen Gesellschaft – spielen in der Erziehung kaum mehr eine Rolle. Freizeitaktivitäten, die nicht dazu dienen, ökonomisch verwertbare Kompetenzen zu erwerben, werden als vermeintlich nutzlos abqualifiziert. Deshalb werden Freiräume immer knapper, in denen Kinder und Jugendliche individuelle Neigungen und Talente entdecken und entwickeln können. Als Argument für die durchorganisierten Tagesabläufe wird oft die Verrohung und Verwahrlosung von Jugendlichen ins Feld geführt. Dabei fehlt dieser Annahme jegliche empirische Basis.

Es wird deutlich: Von der erhofften Auflösung der Klassenschranken durch die Individualisierung kann keine Rede sein. Im Gegenteil: Die »verborgenen Mechanismen der Macht« wirken in veränderter Form ungehindert weiter und verstärken dabei die Kluft zwischen Arm und Reich. Statt zur erhofften Emanzipation und Selbstbestimmung führen die aktuellen Entwicklungen zu Isolation, Leistungsdruck und Konkurrenzdenken. Biografiemanagement – in dem Wort ist das ökonomistische Denken bereits eingelagert – wird zur Grundanforderung der Lebensführung deklariert: »Der geforderte Persönlichkeitstypus des marktgängigen, geographisch mobilen, beruflich flexiblen und privat ungebundenen ›employable man‹ bzw. des ›unternehmerischen Selbst‹ spiegelt direkt die Grundzüge des neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells wider. Die ›Logik‹ des Kapitals, seine Tendenz zur totalen Unterwerfung allen Lebens unter das Warenverhältnis und zur Verdinglichung der sozialen Beziehungen, scheint endgültig zu triumphieren, und zwar weltweit.«zeltlager

Vor diesem Hintergrund mutiert Individualisierung mehr und mehr zum Vehikel für die Durchsetzung einer neoliberalen Gesellschaftsordnung, in der Menschen in erster Linie den Verwertungsinteressen des Kapitals unterworfen sind. Unter solchen Vorzeichen muss »Subjektivität […] nützlich werden, nicht ein Element des Widerstands bieten, sie muss – so widersinnig das erscheint – von Freiheit und Autonomie befreit sein.«

Damit ist die Diagnose gestellt. Aber was kann ein Kinder- und Jugendverband dem entgegen setzen? Einerseits können Jugendverbände die negativen Folgen der Individualisierung auffangen, weil viele junge Menschen in einem Jugendverband eine soziale Einbettung finden. Andererseits zeigt die Forschung, dass Jugendliche immer seltener bereit sind, sich längerfristig in Parteien, Gewerkschaften, Vereinen und Verbänden zu engagieren.

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